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Ein Zürcher in Wien

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Irgendein Winer Held, der irgendwann mal die Geschicke Europas verändert hat.

Irgendein Wiener Held, der irgendwann mal die Geschicke Europas verändert hat.

Wir Stadtblogger verlassen die Stadt Zürich immer mal wieder, um unseren Horizont zu erweitern – und um uns zu überzeugen, dass Zürich noch immer der Nabel der Welt ist. Dieses Mal war unser Autor in Wien.

Mit dem Zug nach Wien zu reisen verhindert einen Kulturschock. Die rund zehnstündige Zugreise beginnt mit einem Abteil voller Zürcher, die sich Station für Station langsam gegen Österreicher einwechseln. Bei St Pölten, kurz vor Wien, merkt man plötzlich, dass man die Leute zwar noch versteht, dass sich die Atmosphäre im Waggon aber eindeutig geändert hat. Die Leute sprechen miteinander, auch wenn sie sich nicht vorgängig kennen.

In Wien angekommen, nehm ich die U-Bahn vom Westbahnhof in den 2. Bezirk. Und hier, im U-Bahnwagen, fällt mir der erste grundlegende Unterschied zwischen Zürich und Wien auf. Ich komme aus einer Stadt der stummgeschalteten Handys. Wenn in Zürich jemand per Whatsapp oder per SMS kommuniziert, erntet er beim dritten Bimmeln böse Blicke. Hier in Wien fühlt man sich wie in einem MTV-Werbespot für Klingeltöne. Niemand scheints zu stören, und auch ich bin nur ein wenig erstaunt, dass ich im Gebimmel und Geklingel der Mobiltelefone Melodien erkenne, die ich seit zehn Jahren nicht mehr gehört hab.

Ein Vollbad in Geschichte

«Du gehst nach Wien?», fragte mein Umfeld vor meiner Reise, um gleich anzuführen: «Wunderbare Stadt! Blablabla Kultur! Blablabla Geschichte! Blablabla Sissi! Blablabla Freud!», während ich eigentlich nur «Schnitzel!» und «Kaffeehäuser!» denke. Ich muss zugeben, Museen und Kultur interessieren mich nur am Rande. Ich wollte eher Wiener kennenlernen. Nur, in Wien kriegt man das eine nicht ohne das andere.

Jede Ecke dieser grossen Stadt ist geschwängert mit Vergangenheit, vollgesogen mit Zeitgeschehen. Während in der Zürich Geschichte gepflegt werden muss, gammelt sie hier in Wien in jeder Häuserzeile vor sich hin. Statuen grosser Männer, die irgendwann mal in Kultur, Politik oder Wissenschaft Europa geprägt hatten, stehen an jeder zweiten Kreuzung den Tauben zur Verfügung. In der Schweiz wär das unerträglich, da wir unsere Helden viel stärker herausputzen. Hier in Wien gibts einfach zu viele davon, als dass man sich noch wirklich um die Einzelnen kümmern könnte. Und so rosten die Helden so mancher geschlagenen Schlacht mitten in den Abgaswolken vor sich hin, ohne dass jemand sie beachtet. In Wien muss man keine Museen besuchen. Wien ist insgesamt ein etwas vernachlässigtes Museum. Das macht die geballte Ladung an Vergangenheit erträglich.

Titel und Status

Aber es sind nicht nur die Strassen, die alte Geschichten erzählen. Auch die Gesellschaftsstruktur trägt noch die Züge der Monarchie. Mir, als direktdemokratischem Schweizer ohne monarchistischem Hintergrund, fällt auf, dass die Menschen hier noch in einer Hierarchie eingebunden sind, die mir völlig unverständlich ist. Adel zählt, genauso wie ein akademischer Titel, Während meine Freunde ihren «Dr.» eher hinter ihrem praktischen Leistungsausweis verstecken, wird hier auch eine Psychotherapeutin von ihren Klienten noch mit «Frau Doktor» angesprochen. Man stellt sogar einen «Magister» vor seinen Namen, wenn man einen hat. Auch Adelstitel klingen noch immer in der Who-is-Who-Welt Wiens. Wo wir C-Promis haben, haben die Wiener die letzten übriggebliebenen Brosamen der Monarchie.

Die Vorstellung, dass eine Elite die Gesellschaft führen müsse, ist hier noch sehr lebendig. Auf der anderen Seite ist hier die Linke auch wirklich noch eine Arbeiterbewegung und nicht ein Verein mittelstandsverweichlichter Möchtegern-Sozialisten wie bei uns. Die politische Kultur erinnert an die 1920er Jahre in Zürich.

Der bescheidene Habsburger

Ich treffe in einem Café beim Palmhaus per Zufall einen Habsburger, einen echten. Eduard Habsburg-Lothringen (mit vollem Namen: Eduard Karl Joseph Michael Marcus Antonius Koloman Volkhold Maria Habsburg-Lothringen). Er benutzt nur seinen Kurznamen und protzt auch nicht mit seinen anderen Titeln (obwohl er sich wahrscheinlich Professor und Erzherzog nennen darf). Er erzählt Geschichten, in denen Geschichte mitschwingt. Seine Grosseltern mussten vor den Russen fliehen, in die Schweiz und danach nach Deutschland. Er kam zurück nach Wien. Er versucht, seine weitläufige Familie ins 21. Jahrhundert zu führen. Zum Beispiel mit einer Facebookgruppe für die Adelsfamilie Habsburg oder mit seinem Twitteraccount. Er erzählt, dass sie (die Habsburger) sich kürzlich einig werden mussten, wie man sich zum 100. Jahrestag des 1. Weltkriegs verhielte. Keine leichte Aufgabe, wenn die eigene Familie für einen Weltkrieg verantwortlich gemacht wird. Und trotz aller Bescheidenheit glaubt Eduard an Hierarchie. Er ist Medienreferent des Bischofs von St Pölten und überzeugter Anhänger des Papstes, der wohl als letzter Mensch auf der Welt noch eine Art kaiserlichen Status besitzt.

Hier ist alles etwas grösser, etwas gewichtiger. Wien war das Herz Europas, jahrhundertelang der Motor europäischer Geschichte. Jetzt steht dieses Herz jedoch in einem Konservierungsglas des medizinhistorischen Museums. In der Gegenwart ist Wien irrelevant für das politische Europa. Das erklärt vielleicht, wieso hier die Geschichte noch Platz im Alltag hat.

Freizeit und Kontakt

Abends mache ich mich auf in die Hipstergegend, ins Museumsquartier. Hier treffen sich die Wiener im Ausgang. Natürlich gehts auch hier nicht ohne Kunst und Kultur, aber die Atmosphäre ist gelöst, man trinkt Bier auf dem Platz. Es dauert etwa zwanzig Minuten, bis mir auffällt, dass etwas fehlt: Keiner kifft. In Zürich ist ein Sommerabend in der Stadt ohne den süssen Duft einheimischen Grases undenkbar. Auch findet man hier schnell Kontakt, Leute sprechen mit mir, ohne dass ich jemanden kenne. Erstaunlich, wenn man aus Zürich kommt, wo man erst als Freund eines Freundes ein Gespräch mit jemandem beginnen darf. Die Wiener leben ihren Status und ihren Dünkel eher im Alltag, mit ihren Titeln und ihrem gesellschaftlichen Stand. Die Zürcher hingegen zeigen ihren Status eher in der Freizeit. Es ist uns wichtiger, den DJ zu kennen, als den Architekten, der den Club gebaut hat.

Nach zwei Tagen Wien vermisse ich noch immer die sprichwörtliche  Wiener Leichtigkeit. Ich sauge eine etwas melancholische Stimmung auf und mir wird die Stadt zu schwer – alles ist gewichtig, monumental, etwas grossspurig. Ich setze mich in den Zug nach Zürich, zurück in die Gegenwart, zurück in die oberflächliche Leichtigkeit, weg von der mächtigen Donau, heim an die beschauliche Limmat.

Wien ist wunderbar. Aber, genau wie das Wiener Essen, ist die Stadt vollgesogen mit sinnbildlichem Öl, das zwar gut runterrutscht, aber schwerer im Magen liegt, als man erwartet.


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